Wednesday, November 2, 2011

Premierenabend

Üblicherweise heben die Nordatlantik-Flüge der Swiss nach New York, Chicago, Miami, San Francisco, Los Angeles oder Montreal am Morgen oder zur Mittagszeit in Zürich ab. Die Ankunft am Zielort erfolgt am Nachmittag und erlaubt uns Besatzungsmitgliedern ein ordentliches Nachtessen oder, hie und da, den Besuch eines Theater- oder Eishockeyspektakels.

Schon wieder Eishockey, mögen einige Leser denken. Und schon wieder Starbucks, wird es anderen gleich durch den Kopf schiessen. Der erste Becher Skinny Vanilla Latte ist leer, auf einen zweiten habe ich heute Morgen keine Lust. Stattdessen hole ich mir einen Orangensaft. „No sugar added“ heisst es auf der Etikette. Gut so, das lässt (Kalorien)Raum für einen späteren Abstecher in die nahe gelegene Cheesecake Factory.

Boston bildet also die Ausnahme bei den Nordatlantikflügen der Swiss. Jene, welche die Regel bestätigt. Der späte Start um 17.25 Uhr stellt mein „Nordatlantik-Schema“ auf den Kopf. Es ist ungewohnt, um diese Zeit in westlicher Richtung über den Teich zu fliegen. Mir wird bewusst, dass mein Empfinden Ausdruck einer, über viele Berufsjahre erworbenen Konditionierung ist: Am Abend ruft der Ferne Osten, wer aufsteht geht nach New York posten. Oder so ähnlich...  

Beim Triebwerkstart gestern Abend war es bereits dunkel. Nach dem Einfahren der Fahrwerke tauchten wir in jene graue Suppe, die uns den lieben langen Tag die Sonne vorenthalten hatte. Es dauerte nur wenige Minuten, dann lösten wir uns aus schummrigen Hochnebel-Fetzen und konnten uns andeutungsweise ausmalen, welch prächtige Herbststimmung wir Unterländer während des Tages verpasst hatten: Auf der linken Seite die Lichter der Stadt Zürich, im fernen Hintergrund die Silhouette der Berner Alpen und am Himmel die Sichel eines zunehmenden Mondes.

Den Nordatlantik traversierten wir bei völliger Dunkelheit. Auch bei der Landung in Boston war der Himmel über uns schwarz. Das Lokalgebräu und der Burger in der Hotelbar mundeten trotz der vorgerückten Stunde vorzüglich.

Knapp 24 Stunden später: Als wir des Abends am Flughafen eintreffen und unsere Koffer an einem der Swiss-Check-In Schalter deponieren, scheint der grosse Passagieransturm bereits vorbei. Vielleicht steht er auch erst bevor, auf jeden Fall sichten wir nur wenige der angesagten 200 Fluggäste. Dafür fällt mir an einem der Schalter eine Dame mit einem mächtigen, weissen Cellokasten auf. Sie ist in Begleitung eines älteren Herrn. Die beiden wirken verunsichert. Erstklasspassagiere, teilt man mir mit. Leider hätten sie es versäumt, für das Saiteninstrument einen zusätzlichen Sitz zu buchen. Nicht mein Problem, schiesst es mir zuerst durch den Kopf, schliesslich wende ich mich trotzdem an das ungleiche Paar. Der Herr erwidert freundlich, zuerst auf Englisch, dann in Deutsch mit osteuropäischem Akzent, dass sie bei Reisen in der First Class noch nie einen Extrasitz fürs Cello benötigt hätten. Die Dame schweigt, verlegen lächelnd.
Phuhh, da bin ich wohl der falsche Ansprechpartner. Fragte jemand nach den Sofortmassnahmen bei einem Triebwerkausfall, könnte ich helfen, die Vorschriften für Reisen mit Cellos sind mir allerdings weniger geläufig.
Doch die beiden Musiker – ich muss wohl annehmen, dass es sich um solche handelt – verhalten sich ausnehmend freundlich und verständnisvoll, was sich positiv auf meine Helferinstinkte auswirkt. Nach einem kurzen Gespräch mit der Kabinenchefin erläutere ich der Dame am Check-In unsere Bereitschaft zu einer flexiblen Problemlösung.

Das Cello landet letztlich in einer Garderobe, wo es verstaut und anständig gesichert wird. Kein zusätzlicher Aufwand, kein Ärger, keine unnötige Verzögerung für die beiden Musiker, die sich bei meiner Begrüssung in der First Class noch einmal gebührlich bedanken.
Später werden wir erfahren, dass es sich hier um den weltberühmten lettischen Violonisten Gidon Kremer sowie die junge litauische Cellistin Giedre Dirvanauskaite handelt. Noch vor wenigen Stunden haben die beiden in der Boston Symphony Hall brilliert, jetzt sind sie unterwegs nach Madrid (mit einem gebuchten Business-Class „Cellositz“ für den Anschlussflug).  

Kremer hat mit zahlreichen bedeutenden Orchestern und Dirigenten wie Leonard Bernstein, Herbert von Karajan, Lorin Mazel oder Zubin Mehta gespielt.

Mit meiner Wenigkeit ist er jedoch noch nie geflogen. Dieser Premierenabend scheint – trotz kleiner Obstruktionen – geglückt.


3 comments:

  1. Wow,

    für mich als Cellostudent und Vielleicht-irgendwann-einmal-Pilot ist das natürlich ein besonders interessanter und spannender Bericht. :)

    Flugreisen mit dem Cello sind tatsächlich recht unpraktisch, da ist ein solches Entgegenkommen der Crew sehr toll, wiewohl es nur Recht ist, wenn auch Kremer(s Begleitung) einen zweiten Platz für das sperrige Gerät berappen muss. ;)

    Und nebenbei: Danke für den schönen Blog. :)

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  2. First Class!

    "By courtesy of your favorite airline"...sie haben da wohl eine feine Visitenkarte abgegeben, zugunsten des Arbeitgebers.

    Crowi

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  3. @Anardil: In diesem Fall weiter viel Glück bei der Ausbildung zum a)Cellist oder b)Piloten.


    Guten Abend Crowi: Lange nichts mehr gehört. Ich hoffe, im besagten Fall im Sinne der Fluggäste gehandelt zu haben. Ob es letztlich auch im Sinne der Airline war, wird sich zukünftig zeigen.

    Gruss
    Dide

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