Friday, December 9, 2011

Heute, hier und jetzt

Während sich meine wackeren Kollegen in Europa durch schüttlige Herbststürme und tanzende Schneeflocken kämpfen, geniesse ich meine Auszeit auf dem Campus der UBC. Das Gelände ist weitläufig, muss es auch sein, denn 30'000 Studierende benötigen viel Platz.
Es ist bei weitem nicht so, dass ich jede freie Minute mit der Tochter verbringe. Wir sehen uns zwar täglich, dennoch bleibt mir viel Zeit für Gedankenspiele und Mussestunden.

Zwischendurch setze ich mich in einen Bus, lasse mich treiben und streife durch verschiedene Winkel der Stadt. Heute beispielsweise bummle ich durch den ältesten Stadtteil von Vancouver: durch Gastown. Ehrwürdige Backsteinbauten prägen das Quartier, in dem auch eines der berühmtesten Wahrzeichen steht: die Dampfuhr. Pubs wechseln sich ab mit Coffeeshops und Souvenirläden. Zwar ist der Himmel wolkenlos, doch in die Gassen von Gastown dringt kaum ein Sonnenstrahl.

Als „Expat im Exil“ fühle ich mich im Ausland immer ein bisschen wie ein Hecht, der dem Fischer vom Haken zurück ins Wasser gesprungen ist. Der längere Aufenthalt hier verstärkt dieses Gefühl. Die Spuren der letzten fünf Jahre, sie lassen sich nicht einfach abschütteln.
Ohne Abu Dhabi wäre Linda mit Sicherheit nicht in Vancouver gelandet. In diesem Fall würde ich wohl kaum meine Ferien hier verbringen. Manchmal, so scheint mir, liegt die Zeit im Wüstensand schon so weit zurück. Die Dinge ändern eben. Oft schneller als wir wünschen. In Phasen des Wechsels und der Veränderung suchen wir Halt im Beständigen. Ob es Zufall ist, dass ich just in dieser Woche auf folgende Zeilen gestossen bin, die mir nicht mehr aus dem Sinn wollen:

Ein Aufbruch ins Ungewisse ist immer gefährlich. Aber viel gefährlicher als jeder Aufbruch, ist die Rückkehr. Und die ist umso gefährlicher, je länger du fort warst. Was glaubst du zu finden? Das, was einmal da war? Vergiss es. Du wirst nur finden, was du verloren hast. Das, was irgendwann einmal dein Leben war.“

Unser Aufbruch nach Abu Dhabi barg gewisse Risiken. Die Rückkehr in die Schweiz jedoch erschien uns immer als Kinderspiel. Zurück in die Heimat, zurück in die vertraute Umgebung, in den Schoss der eigenen Kultur. Heute, mit der Erfahrung der vergangenen Monate, scheiden sich die Geister an folgender Frage: „Was glaubst du zu finden...?“  Wir glaubten, dass wir wüssten, doch die Erwartung stellt uns ab und zu ein Bein.

Ich ertappe mich beim Wunsch, den Moment einzufrieren. Das, was man verloren hat, muss nicht unbedingt besser sein als das, was ist. Doch manchmal schwingt eine Angst mit, dass einem das Hier und Jetzt entgleitet. Wir gehen mit überdimensionierten Rückspiegeln durchs Leben. Auch wenn wir Vergangenes idealisieren, holen wir, was geschehen ist, nicht in die Gegenwart zurück.  

Ich mache Rast in einem Pub. Bestelle ein Bier. Der Blick über den Bildschirm des Laptops offenbart eine Szenerie wie in einem Edgar Wallace Film: Zwei Gassen, die sich kreuzen. Altes Gemäuer, schwarze Pfosten - aufgereiht wie Stationen eines Lebens - verbunden mit schwerer Eisenkette. Verkehrsschilder, Abfalleimer, Zeitungskasten. Dazwischen hasten diffuse Gestalten über die Kopfsteinpflaster.
Ich beobachte durch sauber geputztes Fensterglas. Lasse den Gedanken freien Lauf. Heute, hier und jetzt!


3 comments:

  1. Schreiben ist nicht Kommunikation mit Lesern, auch nicht Kommunikation mit sich selbst, sondern Kommunikation mit dem Unaussprechlichen.
    Max Frisch, Stiller

    … einen vollen Becher Coffee Latte, Zeit, innere Unruhe mit äusserer Gelassenheit, offene Augen und eine Gabe Texte niederzuschreiben, die berühren, bewegen und zum Nachdenken anregen, das ist es, was diesen Blog ausmacht!

    Dide, lass und einen Coffeeshop eröffnen und all den interessanten, spannenden, unruhigen und nachdenklichen "Um-die-Welt-Düsenden" ein Asyl zu bieten.

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  2. Wunderbar formuliert, absolut treffend kommentiert!
    Es ist immer wieder ein echter Hochgenuss euch beide zu lesen, DANKE!

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  3. Ihr "Heute, hier und jetzt!"

    ist genau die Antwort auf das:

    „Ein Aufbruch ins Ungewisse ist immer gefährlich. Aber viel gefährlicher als jeder Aufbruch, ist die Rückkehr. Und die ist umso gefährlicher, je länger du fort warst. Was glaubst du zu finden? Das, was einmal da war? Vergiss es. Du wirst nur finden, was du verloren hast. Das, was irgendwann einmal dein Leben war.“

    Happy X-Mas!

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